Wie lassen sich die biblischen Geschichten ohne antijüdische Projektionsmuster erzählen? In unserer Reihe antisemitismuskritischer Bibelauslegungen befasst sich Katharina von Kellenbach mit dem Bild des edlen Olivenbaums, in den wilde Zweige hineingepfropft werden. Diese von Paulus geprägte Metapher weckt Assoziationen eines Baumes, dessen jüdische Wurzeln unter die Erde und in die Vergangenheit verbannt werden. Aber warum werden eigentlich verschiedene Baumsorten miteinander verbunden?
Der Verweis auf die jüdischen Wurzeln der christlichen Kirche ist meist gut gemeint. Besonders in Schulbüchern tauchen Stammbäume auf, in denen das Judentum in die Vergangenheit und unter die Erde verbannt wird. Solche Baumbilder bestätigen die klassische Enterbungstheologie, nach der das «Alte» ganz im «Neuen» aufgeht, während die dynamische Eigenständigkeit der rabbinischen Auslegungstraditionen unsichtbar bleibt.
In diesem Vortrag liest Katharina von Kellenbach Römer 11 im Kontext der Kulturtechnik des Pfropfens neu: Was passiert eigentlich, wenn ein Zweig auf einen Baum gepfropft wird? Und was wollte Paulus sagen, als er von wilden Zweigen sprach, die auf einen edlen Olivenbaum aufgesetzt werden? Von Kellenbach sucht mit Paulus nach neuen Beziehungsbildern, die Diversität und Pluralismus feiern.
Die Mehrdimensionalität der Schrift zur Geltung kommen lassen
In unserer Reihe antisemitismuskritischer Bibelauslegungen stellen wechselnde Exeget*innen neue Bibelauslegungen vor, die der tradierten Stereotypisierung von Juden, Jüdinnen und Judentum entgegentreten. Denn klischeehafte christliche Vorstellungen wirken oft bildhaft im säkularisierten Antisemitismus weiter: der «alttestamentarische» Gesetzesglauben; der Rachegott, der Blutopfer als Sühne verlangt und Beschneidung anordnet, der eine bestimmte Gruppe auserwählt (Kirche oder Synagoge) und dessen Verheißungen Nationalismus und Kolonialismus schüren.
In wissenschaftlich fundierten, aber leicht zugänglichen Auslegungen bestimmter Textpassagen hinterfragen wir diese karikierenden Vorstellungen jeden zweiten Donnerstag im Monat. Die Exeget*innen schneiden dabei die antijüdische Rezeptionsgeschichte kurz an, entwickeln aber vor allem neue, kreative und lebendige Verständnismöglichkeiten, in denen die Schrift in ihrer Tiefe und Mehrdimensionalität neu zur Geltung kommt. Die Vorträge sollen Lust machen, das Potenzial biblischer Texte neu zu entdecken und zu zeigen, wie sehr wir davon profitieren, wenn wir sie mit der jüdischen Tradition und nicht gegen sie lesen.
Prof. em. Dr. Katharina von Kellenbach ist Referentin des Projektes Bildstörungen an der Evangelischen Akademie zu Berlin sowie Visiting Fellow in Christian-Jewish Relations am Boston College und Professor Emerita für Religionswissenschaften am St. Mary's College of Maryland.
Veröffentlichungen: Guilt: A Force of Cultural Transformation (Oxford University Press, 2022); The Mark of Cain: Guilt and Denial in the Lives of Nazi Perpetrators (Oxford University Press 2013); Anti-Judaism in Feminist Religious Writings (Oxford University Press 1994)