Kaum ein Mensch versteht sich heute dezidiert und offen als Antisemit*in oder als antisemitisch. Doch besonders in Krisenzeiten wie der Corona-Pandemie kommen bestimmte antijüdische oder antisemitische Bilder immer wieder an die Oberfläche. Viele kirchliche Stellungnahmen machen unmissverständlich deutlich, dass Antisemitismus als Sünde verstanden werden muss. Trotzdem tradieren wir als Kirche, in Theologie und Religionspädagogik unbewusst immer noch Bilder, die uns vor der Negativfolie des Judentums lauter Positives zuschreiben. Selbst in den säkularen Varianten des Antisemitismus lebt diese christlich grundierte Stereotypisierung weiter, ohne dass dieser Ursprung bewusst ist oder reflektiert wird.
Diese christlich geprägten Projektions- und Delegationsmechanismen gilt es zu durchbrechen, denn sie machen sich destruktive Bilder vom Anderen, um das Eigene zu idealisieren. In christlicher Tradition wird dies als Sünde bezeichnet. Denn solche Bilder führen zu einer dualistischen Weltsicht: Im Kontrast zu den antisemitischem Bildern von hartherzigen, rachsüchtigen, auf den Buchstaben des Gesetzes pochenden, lieblosen, frauenverachtenden, kriegerischen Juden können sich Christ*innen zugewandt, liebevoll, solidarisch, aufgeklärt und progressiv fühlen. Unsicherheiten, Zweifel, innere Abgründe und Ambivalenzen werden dabei ausgelagert und auf das jüdische Gegenüber projiziert. Juden und Judentum werden zu Ventilen eines idealisierten Selbstbildes. Das «Gerücht über den Juden» (Adorno) überbrückt ideologische Widersprüche und verbindet unterschiedliche politische Lager, was Auswirkungen zum Beispiel auch bei der Be- und Verurteilung israelischer Politik hat.