Wie lassen sich die biblischen Geschichten ohne antijüdische Projektionsmuster erzählen? In unserer Reihe antisemitismuskritischer Bibelauslegungen spricht Tania Oldenhage über die Wirkungsgeschichte der sogenannten Seligpreisung der Unfruchtbaren aus der Kreuzigungserzählung. Mit Hilfe feministischer und post-Holocaust-Forschungen trägt sie eine alternative Lesart vor.
Auf dem Weg zur Kreuzigung wendet sich Jesus an die weinenden Frauen Jerusalems: «Weint nicht um mich, sondern weint um euch selbst und um eure Kinder. Denn es kommen Tage, da wird man sagen: Selig sind die Unfruchtbaren und die Leiber, die nicht geboren haben, und die Brüste, die nicht gestillt haben.» (Lukas 23,28-29) Bei ihrer Neuinterpretation dieser Geschichte aus dem Lukas-Evangelium erinnert Tania Oldenhage an literarische Traditionen, in denen Bilder von Müttern und Säuglingen verwendet werden, um die verheerenden Auswirkungen von Krieg und anderen Formen der Gewalt zu vermitteln.
In unserer Reihe antisemitismuskritischer Bibelauslegungen stellen renommierte und junge Exeget*innen neue Bibelauslegungen vor, die der tradierten Stereotypisierung von Juden*Jüdinnen und Judentum entgegentreten.
Klischeehafte christliche Vorstellungen wirken oft bildhaft im säkularisierten Antisemitismus weiter: der alttestamentarische Gesetzesglauben; der Rachegott, der Blutopfer als Sühne verlangt und Beschneidung anordnet; der eine bestimmte Gruppe auserwählt (Kirche oder Synagoge) und dessen Verheißungen Nationalismus und Kolonialismus schüren. In wissenschaftlich fundierten, aber leicht zugänglichen Auslegungen bestimmter Textpassagen hinterfragen wir diese karikierenden Vorstellungen jeden zweiten Donnerstag im Monat.
Die Exeget*innen schneiden dabei die antijüdische Rezeptionsgeschichte kurz an, entwickeln aber vor allem neue, kreative und lebendige Verständnismöglichkeiten, in denen die Schrift in ihrer Tiefe und Mehrdimensionalität neu zur Geltung kommt. Die Vorträge sollen Lust machen, das Potential biblischer Texte neu zu entdecken und zu zeigen, wie sehr wir davon profitieren, wenn wir sie mit der jüdischen Tradition und nicht gegen sie lesen.
Tania Oldenhage ist Pfarrerin in Zürich. Sie promovierte in den USA und lehrte dort an unterschiedlichen Universitäten, bevor sie Gemeindepfarrerin in Zürich und Studienleiterin am Forum für Zeitfragen in Basel wurde. 2013 habilitierte sie an der Universität Basel und unterrichtet dort seitdem als Privatdozentin für Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments.
Buchveröffentlichungen: Neutestamentliche Passionsgeschichten nach der Shoah. Exegese als Teil der Erinnerungskultur. Kohlhammer 2014; Parables for Our Time: Rereading New Testament Scholarship aafter the Holocaust. Oxford 2002.