Wie lassen sich die biblischen Geschichten ohne antijüdische Projektionsmuster erzählen? In unserer Reihe antisemitismuskritischer Bibelauslegungen zeigt Angelika Strothmann, dass das Nächstenliebe-Gebot seinen Ursprung lange vor Jesus in der Thora hat.
Entgegen der hartnäckig wiederkehrenden Rede von der «christlichen» Nächstenliebe hat nicht das Christentum und auch nicht Jesus von Nazareth das Gebot der Nächstenliebe «erfunden». Es stammt vielmehr aus Leviticus 19,18 und damit aus einem der zentralen Texte der Thora, der fünf Bücher Mose. Der Vortrag wird zeigen, dass das Nächstenliebe-Gebot dort im Kontext des gesamten 19. Kapitels des Buches Leviticus interpretiert werden muss: Es verbindet zum einen Gottesliebe und Nächstenliebe und weitet zum anderen die Nächstenliebe auf Feindesliebe und Fremdenliebe aus. Der Jude Jesus von Nazareth sowie seine jüdischen Nachfolger*innen haben also nicht etwas Neues geschaffen, sondern standen ganz auf dem Boden dieser Liebesgebotsethik und wurden von ihr inspiriert und geleitet.
In unserer Reihe antisemitismuskritischer Bibelauslegungen stellen renommierte sowie junge Exeget*innen neue Bibelauslegungen vor, die der tradierten Stereotypisierung von Juden, Jüdinnen und Judentum entgegentreten. Klischeehafte christliche Vorstellungen wirken oft bildhaft im säkularisierten Antisemitismus weiter: der alttestamentarische Gesetzesglauben; der Rachegott, der Blutopfer als Sühne verlangt und Beschneidung anordnet; der eine bestimmte Gruppe auserwählt (Kirche oder Synagoge) und dessen Verheißungen Nationalismus und Kolonialismus schüren.
In wissenschaftlich fundierten, aber leicht zugänglichen Auslegungen bestimmter Textpassagen hinterfragen wir diese karikierenden Vorstellungen jeden zweiten Donnerstag im Monat. Die Exeget*innen schneiden dabei die antijüdische Rezeptionsgeschichte kurz an, entwickeln aber vor allem neue, kreative und lebendige Verständnismöglichkeiten, in denen die Schrift in ihrer Tiefe und Mehrdimensionalität neu zur Geltung kommt. Die Vorträge sollen Lust machen, das Potenzial biblischer Texte neu zu entdecken und zu zeigen, wie sehr wir davon profitieren, wenn wir sie mit der jüdischen Tradition und nicht gegen sie lesen.
Prof. em. Dr. Angelika Strotmann ist Professorin für Neues Testament am Institut für katholische Theologie der Universität Paderborn. Sie ist Vorstandsmitglied der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Vorsitzende der Europäischen Gesellschaft für Frauen in theologischer Forschung und Mitübersetzerin der Bibel in gerechter Sprache.