Wie lassen sich die biblischen Geschichten ohne antijüdische Projektionsmuster erzählen? In unserer Reihe antisemitismuskritischer Bibelauslegungen spricht Marie Hecke über neue Zugänge zu den neutestamentlichen Heilungsgeschichten. Der Jude als «mit Blindheit geschlagen» ist ein in mehrfacher Hinsicht diskriminierendes Motiv: Heilungsgeschichten wie die in Johannes 9,1-7 (Die Heilung eines Blindgeborenen) vermitteln den Hörer*innen zum einen das Ideal eines gesunden, uneingeschränkten und voll funktionsfähigen Körpers; Krankheit und Behinderung werden demgegenüber ausschließlich als Abweichung und Mangel, als Negativmetapher für Nichtverstehen und Nichterkennen, also ableistisch verwendet. Zum anderen wird die Negativmetapher der «Blindheit» antisemitisch gewendet, wenn am Ende des Kapitels die Pharisäer – obwohl sie körperlich sehen können – als «blind» bezeichnet werden, weil sie Jesus nicht als Messias (an)erkennen. Die Gretchenfrage lautet hier also: Wie können Heilungsgeschichten unterrichtet und erzählt werden, ohne antisemitische und/oder ableistische Klischees zu bedienen?
In unserer Reihe antisemitismuskritischer Bibelauslegungen stellen renommierte Exeget*innen neue Bibelauslegungen vor, die der tradierten Stereotypisierung von Juden*Jüdinnen und Judentum entgegentreten.
Klischeehafte christliche Vorstellungen wirken oft bildhaft im säkularisierten Antisemitismus weiter: der alttestamentarische Gesetzesglauben; der Rachegott, der Blutopfer als Sühne verlangt und Beschneidung anordnet; der eine bestimmte Gruppe auserwählt (Kirche oder Synagoge) und dessen Verheißungen Nationalismus und Kolonialismus schüren. In wissenschaftlich fundierten, aber leicht zugänglichen Auslegungen bestimmter Textpassagen hinterfragen wir diese karikierenden Vorstellungen von September 2021 bis April 2022 jeden zweiten Donnerstag im Monat. Die Exeget*innen schneiden dabei die antijüdische Rezeptionsgeschichte kurz an, entwickeln aber vor allem neue, kreative und lebendige Verständnismöglichkeiten, in denen die Schrift in ihrer Tiefe und Mehrdimensionalität neu zur Geltung kommt. Die Vorträge sollen Lust machen, das Potential biblischer Texte neu zu entdecken und zu zeigen, wie sehr wir davon profitieren, wenn wir sie mit der jüdischen Tradition und nicht gegen sie lesen.
Die Theologin und Religionspädagogin Marie Hecke ist Assistentin am Lehrstuhl für Neues Testament und theologische Geschlechterforschung der Kirchlichen Hochschule Wuppertal-Bethel, Mitglied der AG Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag und Vorstandsmitglied von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V. Sie promoviert im Fach Religionspädagogik zum Thema «Evangelische Toradidaktik. Jüdische und christliche Bibeldidaktik im Gespräch».
Den Bibeltext zu Johannes 9,1-7 können sie hier nachlesen in der Lutherübersetzung.