Ein Blick zurück nach vorn
Die berühmte Stegreifrede Johann Hinrich Wicherns auf dem Wittenberger Kirchentag von 1848 gilt als Geburtsstunde der Inneren Mission und damit der verfassten Diakonie. Seine Rede atmet den Geist der Krise: Die Industrialisierung wälzte in kürzester Zeit die ständisch-agrarische Gesellschaft um. Die Kirche sah sich bei der geistlichen und materiellen Versorgung der großen Arbeiterquartiere massiv herausgefordert. Der Geist der Revolution mit seinem antikirchlichen und teils atheistischen Impetus jagte den Kirchenmännern großen Schrecken ein: Drohte das Ende der „Volkskirche“? Von einem „Wendepunkt der Weltgeschichte“ war die Rede.
175 Jahre später reden wir von einer „Zeitenwende“ – das Wort des Jahres 2022. Dabei geht es nicht allein um die Ausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik angesichts eines schrecklichen Angriffskrieges in Europa. Digitalisierung und Künstliche Intelligenz schicken sich an, alle Lebensbereiche grundlegend umzuwälzen. Diese werden zugleich bunter, migrantischer und diverser, was viel zu viele in die Fänge antidemokratischer Parteien treibt. Der Klimawandel macht eine umfassende Transformation unumgänglich und das in einer Situation, in der Corona, Inflation und Energiepreise viele Menschen in materielle Nöte gebracht hat. Das verstärkt das Gefühl von Unsicherheit. Was wird morgen sein?
Viele diakonische Einrichtungen und kirchliche Anlaufstellen kennen diese Frage aus dem Mund der Menschen, mit denen sie Kontakt haben. Parallel werden die beiden großen Kirchen immer kleiner. Inzwischen gehören ihnen weniger als 50 Prozent der Menschen in Deutschland an. „Wir“ sind nur noch eine Minderheit und schrumpfen weiter: Kirche wird ärmer und kleiner sein – aber auch unbedeutender?
Es gilt, nach vorne zu blicken: Wie kann der biblische Auftrag mit den verbleibenden Ressourcen in einer sich rasant wandelnden Gesellschaft zur Geltung gebracht werden? In welchem Verhältnis stehen dabei verfasste Diakonie und Kirche? Wie können die erlösende Botschaft von der Liebe Gottes und die christliche Nächstenliebe unter Bedingungen der gesellschaftlichen Transformation Früchte tragen?
Wendepunkte und Zeitenwenden sind und waren immer Anlässe zur Reflexion. Wie Kirche und Diakonie zukünftig ihren Dienst am Menschen leisten können, ist unsere Frage. Nur mit Mut, Gestaltungswillen, im guten Miteinander und gemeinsam mit anderen Akteuren! So lautet unsere These.
Wir wollen das mit führenden Expertinnen und Experten aus Diakonie, Kirche, Diakoniewissenschaft und Theologie diskutieren. Wir wollen mit Ihnen ins Gespräch kommen – ganz gleich, ob Sie leitend, haupt- oder ehrenamtlich in Kirche und Diakonie engagiert sind oder an der Zukunft von Kirche, Diakonie und unserer Gesellschaft ein persönliches Interesse haben. Eine herzliche Einladung in die Evangelische Akademie Tutzing!
Dr. Hendrik Meyer-Magister, Stellv. Direktor und Studienleiter an der Evangelischen Akademie Tutzing
Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie Deutschland