epd-Gespräch: Daniel Staffen-Quandt
Tutzing (epd). Die Evangelischen Akademien in Deutschland verstehen sich als «sichtbaren und wirksamen Ausdruck kirchlicher Verantwortung für Gesellschaft und Demokratie». Der Dachverband hat vor Kurzem ein gemeinsames Positionspapier mit dem Titel «Diskurskultur und politische Bildung» veröffentlicht. Angeregt hat das Papier der Direktor der Evangelischen Akademie in Tutzing, Udo Hahn. Der Pfarrer ist zugleich auch der Vorstandsvorsitzende des Dachverbands. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) erläutert er, wozu das Papier nötig ist – und weshalb die Akademien für die gesellschaftliche Debatte weiter wichtig sind.
epd: Herr Hahn, die 16 Evangelischen Akademien in Deutschland haben ein gemeinsames Positionspapier verfasst und darin ihre Rolle als Forum für gesellschaftliche und kirchliche Diskurse betont. Weshalb?
Hahn: Wir haben bereits 2012 eine gemeinsame Standortbestimmung verfasst, mit der wir uns möglichen Partnern der Zivilgesellschaft und staatlichen Stellen vorgestellt haben. Ziel war es, den Wert evangelischer Akademien in einer pluralen Gesellschaft herauszuarbeiten. Das ist uns damals gut gelungen, das wirkt bis heute. Aber wir stellen fest, dass wir uns innerhalb der Kirche, die sich im Umbruch befindet, neu vorstellen müssen.
epd: Das klingt fast so, als habe es da in den vergangenen Jahren einen «Entfremdungsprozess» gegeben. Wieso müssen die Akademien extra eine neue Nähe zu ihren geldgebenden Kirchen suchen?
Hahn: Von einem Entfremdungsprozess möchte ich nicht sprechen. Die Evangelischen Akademien sind nach dem Zweiten Weltkrieg als eine Innovation gegründet worden: Sie sollten Orte des offenen und freien Diskurses sein, den die Kirchen der Gesellschaft zur Verfügung stellen, ohne selbst die bestimmende Kraft dort zu sein. Die Akademien gehören zu einer «Suchbewegung», wenn es darum geht, Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen zu finden. Sie sind Denkwerkstätten. Ihre Funktion und Expertise sind in Politik und Zivilgesellschaft anerkannt als Instrumente der politischen Kommunikation der Kirche. Und als solche sollen sie natürlich auch von den Kirchen selbst genutzt werden.
epd: Wie unabhängig können die Akademien denn sein, wenn sie doch kirchliche Gelder benötigen?
Hahn: Ohne finanzielle Mittel aus den kirchlichen Haushalten gäbe es die Akademien nicht. Sie erwirtschaften auch Einnahmen und erhalten staatliche Zuschüsse, sodass am Ende meist eine schwarze Null steht. Akademien werden als «Räume des Vertrauens» wahrgenommen, in denen interdisziplinär und multiperspektivisch gearbeitet wird. Alle Themen, die Menschen beschäftigen, kommen auch in der Akademiearbeit vor. Diese Freiheit nehmen wir mit Verantwortung wahr. Dazu gehört, dass wir eine «protestantische Perspektive» einbringen.
epd: Können Sie das näher erläutern?
Hahn: Für jede Akademie gibt es entweder eine Satzung oder ein Akademiegesetz. Darin ist der Auftrag skizziert. Die Kirchen wollen mit ihren Akademien zur «Meinungsbildung in der Gesellschaft» beitragen und dabei natürlich auch die evangelische Sichtweise einbringen. In einer pluralen Gesellschaft ist eine solche «Tönung» legitim – so wie bei Bildungswerken oder Akademien von politischen Stiftungen und Verbänden auch. Dabei bringen wir die Perspektive des Glaubens ein, wecken den Sinn für das Mögliche und halten die Zuversicht hoch, dass sich Entwicklungen zum Besseren verändern lassen.
epd: Die Evangelischen Akademien wurden gegründet, um gesellschaftliche Debatten zu organisieren. Aber es ist schon lange her, dass so richtig weitreichende Impulse von Akademie-Veranstaltungen ausgingen…
Hahn: Evangelische Akademien erreichen für die Kirche wichtige Zielgruppen. Wir haben die Hand am Puls der Gesellschaft, arbeiten agil und projektbezogen. Impulse entwickeln ihre Wirkung oft zeitversetzt. Nehmen Sie das heute berühmte Motto «Wandel durch Annäherung», mit dem Egon Bahr 1963 in der Evangelischen Akademie Tutzing die Ostpolitik Willy Brandts prägte. In der Tagung selbst und in den Medien war das Echo ausgesprochen kritisch. Es hat Jahrzehnte gebraucht, ehe sich dieses Motto in der Politik quasi als Referenzmodell durchgesetzt hat.
epd: Das heißt, die Evangelischen Akademien können heute eigentlich noch gar nicht bewerten, welche Rolle sie aktuell als Ort für gesellschaftliche Debatten einnehmen?
Hahn: Doch, das können wir, wenn wir die Berichterstattung in den Medien auswerten und die Rückmeldungen von Teilnehmenden und Kooperationspartnern. Wir sind anerkannte Diskursorte, wenn es um die Stärkung der Demokratie, die Förderung der Zivilgesellschaft, den Einsatz gegen Rassismus und Antisemitismus geht. Die Wirkung vieler Impulse lässt sich oft erst im Nachhinein bestimmen. Vor fast 40 Jahren wurde in Tutzing Pro Asyl gegründet – es konnte niemand ahnen, dass das Thema auch 2024 noch so virulent ist. Auch die Elternzeit-Idee wurde erstmals bei uns öffentlich vorgestellt. Dass das ein wichtiges Thema ist, war schon damals klar, aber welche Bedeutung diese soziale Errungenschaft für die deutsche Gesellschaft haben würde, das war so nicht absehbar.
epd: Vielen Menschen wird tendenziell zu viel diskutiert und debattiert und zu wenig gehandelt. Weshalb ist es dennoch wichtig, dass es die Akademien als Orte für Debatten gibt?
Hahn: An den Evangelischen Akademien ist ein differenzierter Blick auf die Wirklichkeit und auf die dort gegebenen Herausforderungen möglich. Komplexe Themen erschließen sich oftmals nicht in der nötigen Tiefe, wenn man für sich alleine ein Youtube-Video anschaut. Die einfachen, schnellen Lösungen, die greifen ja gerade bei «Aufreger-Themen» zu kurz. Bei den Debatten in den Evangelischen Akademien geht es gerade darum, Dinge zu durchdringen und nächste Schritte zu überlegen – und auszuprobieren.
epd: Ein solches Angebot richtet sich dann aber schon zuvorderst an ein akademisch-bildungsbürgerliches Publikum – viele gesellschaftliche Gruppen werden vom Angebot der Akademien damit nicht erreicht…
Hahn: … das wäre auch vermessen zu erwarten, dass die Evangelischen Akademien mit ihrem Angebot die gesamte Gesellschaft in ihrer Vielfalt abholen können. Die Kirchen haben eine Fülle von Bildungsaktivitäten, die insgesamt auf die Breite der Gesellschaft abzielt. Aber jedes dieser Angebote bedient eben einen ganz bestimmten Bereich. Die Akademien erreichen nach verschiedenen Untersuchungen die meinungsbildenden Kräfte in Kirche und Gesellschaft – und für diese machen wir ein passgenaues Angebot.
epd: Solche Positionspapiere verfasst man nicht ohne Grund, sondern damit sind immer Wünsche oder auch Forderungen verbunden. Was genau möchten Sie bei Gesellschaft, Politik und Kirchen damit erreichen?
Hahn: An die Gesellschaft richten wir den Wunsch, dass zu ihrem vielstimmigen Chor auch die evangelische Perspektive gehört. An die Politik haben wir den Wunsch, dass sie die Vielfalt der unterschiedlichen Partner in der Gesellschaft weiter fördert und dabei auch die Kirchen und ihre Bildungseinrichtungen mit einbezieht. Und bei den evangelischen Kirchen wollen wir mit unserem Positionspapier erreichen, dass sie sich über das in Politik und Gesellschaft hoch anerkannte Instrument ihrer Akademien wieder bewusster werden.
epd: Das Papier ist also vor allem Werbung in eigener Sache? Sie wollen ihren Zuschussgebern gegenüber den gesellschaftspolitischen Wert der Akademien unterstreichen…
Hahn: Wir haben als Evangelische Akademien eine wichtige Funktion in dieser Gesellschaft. Uns lag daran, diesen Auftrag, den uns die Kirchen einst gegeben haben und den wir mit großem Engagement wahrnehmen, in einem aktualisierten Positionspapier zu präsentieren.
Pfarrer Udo Hahn ist Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing und Vorsitzender der Evangelischen Akademien in Deutschland e. V. (EAD).