Evangelische Akademien Deutschland
Evangelische Akademie Frankfurt

Deutschland und Du

Aufsuchende politische Bildung zur Bundestagswahl


Mit jungen Menschen politisch ins Gespräch kommen, ohne über Politik zu reden? Das war der Gedanke hinter der Aktion „Deutschland und Du“. Denn – ob wahlberechtigt oder nicht – auch junge Menschen sind in ihrem Alltag von Politik betroffen. Über Politik reden ist allerdings nicht jedermanns Sache. Wie also sieht eine Aktionsform aus, bei der wir ganz niedrigschwellig darüber ins Gespräch kommen können, was Jugendliche beschäftigt? Im Februar startete die Evangelische Akademie Frankfurt eine Tournee durch die offene Kinder- und Jugendarbeit. Mit dabei: Eine Tonne, in die man alles treten kann, was schlecht ist, ein Glücksrad zum glücklich werden und sieben tolle Teamer*innen!

Politische Bildung mit Schatztruhe und Post-its

Insgesamt zwölf Mal waren in den letzten drei Wochen vor der Bundestagswahl Dreierteams in und um Frankfurt im Einsatz. Eingeladen hatten vor allem Kinder- und Jugendhäuser, zweimal waren die Teamer*innen außerdem mit einer lokalen Initiative von Jugend-Streetwork, Quartiersmanagement und Vereinen des Stadtteils im öffentlichen Raum unterwegs. Ob Stuhlkreis oder Sofaecke, das methodische Konzept mit drei Gesprächsstationen konnte je nach Gruppengröße und -zusammensetzung flexibel eingesetzt werden. Mal wurden die Einsätze als „Challenge“ gerahmt, um die Teilnahmemotivation zu steigern und für ein bisschen Action zu sorgen. Mal funktionierten sie auch ohne Gamification – einfach als gemeinsame Aktivität.

Bei der ersten Station „Wofür schlägt dein Herz (nicht)?“ sammelten die Teilnehmenden auf Zetteln, was in Deutschland gut oder schlecht läuft. Abhängig davon, ob sie etwas toll oder schrecklich fanden, warfen sie ihre Zettel entweder in die „Schatztruhe“ oder den „Mülleimer“. Wo Teamarbeit und Wettkampfelemente eine Rolle spielten, durften sie für jeden Zettel ein Buch auf die ausgestreckten Arme einer Person des gegnerischen Teams packen und beobachten, wie lange der Turm gehalten werden konnte. Anschließend wurden die aufgeschriebenen Kärtchen rausgeholt, diskutiert und geclustert: Wo lagen mehr Zettel drin? Was war einfacher zu benennen: das Tolle oder das Schlechte? Inwieweit kommen die Themen, die sie aufgeschrieben haben, auch im Wahlkampf vor?

Die zweite Station, die „Post-it Gehirn-Challenge“, machte Politik im Alltag sichtbar. „Wo steckt hier im Jugendhaus überall Politik drin?“, lautete die Ausgangsfrage, mit der die Teilnehmenden losgeschickt wurden. Das Team, das am schnellsten fünf Post-its kleben beziehungsweise in drei Minuten die meisten Klebezettel verteilen konnte, gewann. Die Jugendlichen erkannten ohne große Schwierigkeiten, wo überall Politik drinsteckt und konnten den Bezug erläutern. Sie beklebten Wasserhähne und Lebensmittel, Heizkörper und Notausgänge, Weltkarten und Uhren, sich selbst und das Personal. All das hat eine politische Dimension – sei es über Freiheitsrechte, Sicherheitsreglungen oder dass sie steuerfinanziert beziehungsweise politisch umstritten sind. Auch metaphorisches Denken war natürlich erlaubt: der Spiegel, weil Politik die Gesellschaft spiegeln sollte oder die Tür, weil sie wie eine Grenze ist, über die sich Menschen und Waren bewegen.

Die dritte Station, das „Glücksrad des Demokratiemuskels“, thematisierte verschiedene Formen politischen Engagements. Also, was man außer Wählen noch tun kann, damit beispielsweise das fortgeführt wird, was in der Schatztruhe liegt und sich das ändert, was die Teilnehmenden „für die Tonne“ hielten. Besonders bei jüngeren Teilnehmenden war das Rad sehr beliebt, aber auch junge Erwachsene entdeckten damit neue Teilhabemöglichkeiten und kamen über alles zwischen Schüler*innenvertretung und lokalen Bürgerschaftsinitiativen ins Gespräch. Oft funktionierte das Rad direkt beim Ankommen als „Eisbrecher“: jemand wollte drehen und so waren die Teamer*innen direkt ins Gespräch vertieft, ohne erst zu erklären, wer oder weshalb sie da waren („Ah, ‚Nachrichten‘ steht hier. Was haben Nachrichten mit dir zu tun?“).

Wer nahm teil und worum ging es den Jugendlichen?

Mehrheitlich trafen die Teams auf Jugendliche in der Sekundarstufe bis hin zu kurz vor dem Schulabschluss. Einige hatten Förderbedarf oder holten ihren Abschluss nach, andere Teilnehmende waren älter und bereits berufstätig. Oft variierten die Wissensstände, Sprachen, Redeanteile und Aufmerksamkeitsspannen. Während einige Jugendliche politisch sehr interessiert und wahlmotiviert waren, begegneten die Teams auch Frustration, Politikverdrossenheit und Verschwörungsdenken. Manchmal beteiligten sich gerade die Stimmen besonders intensiv, die zugleich gut informiert waren, aufgrund eigener Perspektivlosigkeit der Politik aber kritisch gegenüberstanden.

Die von den Teilnehmenden eingebrachten Themen unterschieden sich teils erheblich von gängigen Wahlkampfthemen. Häufig genannt wurden:

  • Prekäre Lebenslagen und hohe Lebenshaltungskosten: „Wie kann es sein, dass es mir schlechter geht als meinen Eltern damals, als sie nach Deutschland kamen?“ – hier ging es sowohl um Preise und Inflation als auch um den wahrgenommenen Bruch des Aufstiegsversprechens.
  • Kritik am Bildungssystem und Probleme im Bereich Hilfeleistungen: zu wenige Plätze in stationären Wohngruppen, überarbeitetes Jugendamt, zu viel Papierkram bei Behörden.
  • Weltpolitische Themen wie der Krieg in Israel und Gaza und der Russland-Ukraine-Krieg
  • Ängste bezüglich der AfD: „Wo sollen wir leben, wenn wir nicht in Deutschland bleiben können?“

Die Teamer*innen nahmen bei manchen Teilnehmenden Angst vor der Zukunft in einer Gesellschaft wahr, die zunehmend alle Probleme auf Migration projiziert. Sie hörten an anderen Stellen Sozialneid als Folge eigener Armutserfahrungen oder Abstiegssorgen heraus. Auch erlebten sie – überraschenderweise – ein durchgehend großes Interesse, über die formelle Seite der Politik zu reden: über Wahlen, Parteien, Wahlberechtigung und wie die Direktkandidierenden auf dem Wahlzettel landen.

Erfolge und Herausforderungen

Vor Ort begegneten unsere Teams jungen Menschen in ihrem unmittelbaren Lebenskontext, die sonst nicht unbedingt an einem Bildungsangebot der Evangelischen Akademie Frankfurt teilgenommen hätten. Die Begegnungen und das offene Format brachten auch Herausforderungen: Wie erklärt man komplexe Sachverhalte in einfachen Worten? Wie behalten wir die Aufmerksamkeit? Wie sprechen wir über sensible Themen wie den Israel-Gazakrieg oder Verschwörungsnarrative? Wo steigen wir ein und wie stark achten wir auf unterschiedliche Redeanteile?

Schwierigkeiten zum Trotz blicken die Teamer*innen gestärkt zurück. Das Konzept hat funktioniert, und zwar in unterschiedlichen Settings und für verschiedene Altersgruppen. Die Jugendlichen ließen sich auf das Angebot ein, äußerten ihre Meinungen und waren interessiert. Viele brachten zum Ausdruck, dass sie sonst diese Art Raum, offen über Politik zu sprechen, nicht hätten. Gerade in schulischen Kontexten, so erzählten viele, würden ihnen Gespräche über kritische Themen untersagt. Von Seite des hauptamtlichen Personals hieß es, dass die Teams Gespräche angeregt haben, die sie selbst schwer anstoßen können. Sie fragten nach Kopien der Materialien, um in den Folgetagen selbst mit den Jugendlichen weiterreden zu können und möchten gerne erneut zusammenarbeiten – ein klares Zeichen dafür, dass der Ansatz einen Nerv getroffen hat.

Wir nehmen mit, dass politische Bildung auch anderes funktionieren kann. Manchmal reichen ein Glücksrad, eine Schatztruhe und ein offenes Ohr, um mit jungen Menschen ins Gespräch zu kommen über das, was sie bewegt – und was wir gemeinsam bewegen können. Nun müssen wir schauen, ob und wie es weitergeht!

Kontakt: Stina Kjellgren und Annette Lorenz